Die Bedeutung der Bewegung in der kindlichen Entwicklung

1. Beobachtungsmöglichkeiten der Bewegungsqualitäten bei Kindern

Systematische Beobachtungs- und Beurteilungsmöglichkeiten der motorischen Geschicklichkeit von Kindern ergeben sich wie folgt:

  1. Freie Beobachtung: Die Beobachtung der kindlichen Spontanbewegung bei Spiel, Sport, Basteln, Malen und bei allen alltagspraktischen Handlungen.
  2. Gezielte Beobachtung: Vorgeben und Einfordern von altersgerechten Bewegungsleistungen wie z.B. Hampelmannsprung, Ball prellen u.v.m.
  3. Testbeobachtung: Durchführung eines Körperkoordinationstests. Die zur Zeit gängigen Verfahren sind der Körperkoordinationstest KTK für 5,0 bis 13,11 jährige Kinder und der Motoriktest MOT 4-6 für 4,0 bis 6,11 jährige Kinder.

Hierbei ist es möglich, insbesondere folgende Parameter zu beurteilen:

  • Gesamtkörperkoordination
  • Gleichgewichtsfähigkeit
  • Bewegungsgeschwindigkeit
  • Bewegungsrhythmus
  • Zielmotorik
  • Feinmotorische Geschicklichkeit

Insbesondere Pädagogen genießen in der freien und gezielten Beobachtung den Vorteil gegenüber Arzt und Therapeut, da sie die Kinder wiederholt in ihren motorischen Fertigkeiten beobachten und insbesondere innerhalb der Gleichaltrigengruppe vergleichen können.

2. Die sensomotorische Verarbeitung bei Bewegungsaufgaben

Beispiel A: Einbeinstand

Der Einbeinstand fordert gut abgestimmte, früh einsetzende Ausgleichsbewegungen, die auf der Integration der Afferenzen (Sinnesreiz von Sinnesorgan zum Zentralnervensystem geleitet) aus dem vestibulären, dem taktil-kinästhetischen und dem visuellen System aufbauen.
DEEGENER u.a. (1992) J. AYRES (1979) nennt geringe Augenkontrolle, unausgereifte Gleichgewichtsreaktionen und gering integrierte primitive Haltungsreflexe als mögliche Ursachen von Störungen der Haltungsintegration.

Beispiel B:

Im Wechsel mit der Faust, der Handkante, der flachen Hand auf die Tischplatte klopfen. Die Sequenz drei mal wiederholen. Diese Aufgabe erfordert zuerst das Behalten der Instruktion. Weiterhin die Ausarbeitung einer Bewegungsplanung, eine Bewegungssteuerung unter sprachlicher Regulation (Faust, Handkante, Hand) und die Ausbildung einer kinetischen Melodie (fließender harmonischer Bewegungsablauf). Laute verbale Selbstinstruktion des Kindes könnte zu einer Erleichterung bei der Durchführung helfen.
Der motorische Kortex zur Bewegungssteuerung, okzipitale Gehirnabschnitte zur Verarbeitung visueller Information, die Frontallappen zur sprachlichen Regulation der Bewegung und der prämotorische Kortex zur Ausbildung der kinetischen Melodie sind bei Durchführung dieser Aufgabe beteiligt. DEEGENER u.a. (1992)

Diese beiden Beispiele zeigen auf, welch große Anzahl an Sinnesorganen (Muskeln, Gelenke, Gleichgewicht, Haut, Augen, und Ohren) ihre spezifischen Sinnesreize ver-arbeiten und wieviel hirnorganische Anteile an Bewegungsleistungen beteiligt sind.

Ursächlich wird von einer Hirnschädigung ausgegangen. Mittlerweile hochverfeinerte bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie können allerdings keine entsprechenden Hinweise geben.
Diskutiert werden sowohl strukturelle Schädigungen des Gehirns, als auch Stoffwechselstörungen.

3. Die Bedeutung der motorischen Befunde als Ausdruck einer spezifischen Reifungsverzögerung

In der Beobachtung von motorisch auffälligen Kindern zeigen sich aber nicht selten weitere Symptome, die über reine grob- und feinmotorische Schwächen des Kindes hinausgehen. Es werden hier Begriffe wie Teilleistungsstörungen, Minimale cerebrale Dysfunktion (MCD), Psychoorganisches Syndrom (POS) als Diagnosen verwendet. Beide Begriffe geben keinerlei gezielte Angaben über die tatsächlichen guten und weniger guten Fähigkeiten des Kindes.
Genannt werden dabei vorrangig folgende Symptome:

  • Grobmotorische Störungen
  • Feinmotorische Defizite
  • Motorische Unruhe
  • Auditive, visuelle, taktil - kinästhetische Wahrnehmungsstörungen
  • Aufmerksamkeitsdefizite
  • Mangelnde Impulskontrolle
  • Feinneurologische Zeichen wie Tremor, Ataxie, assoziierte Reaktionen
  • Mangelnde soziale Integration

Um den betroffenen Kindern eine, auf ihre Defizite hin gezielt abgestimmte Förderung zukommen zu lassen, ist eine umfassende Diagnose erforderlich. Orientiert an der Symptomatik des betroffenen Kindes sollten folgende Leistungen beurteilt werden.

  • Motorische Funktionen
    • Gesamtkörperkoordination
    • Motorische Funktion der Hände
    • Orale Praxie
  • Sensorische Integration
  • Hautkinästhetische Funktionen
  • Visuelle Funktionen
  • Auditive Reizverarbeitung
    • Lautunterscheidung
    • Lautanalyse
    • Wortergänzung
  • Expressive Sprache
  • Gedächtnis
    • Auditive Merkfähigkeit
    • Visuelle Merkfähigkeit

WEHRLI (1981), sowie WUNDERLICH (1969), als auch EGGERT und KIPHARD (1972) vertreten die Auffassung, daß motorische Aufgaben wahrscheinlich nur bis etwa 11 Jahren zwischen hirngeschädigten und -gesunden Kindern differenzieren. Allgemein ist davon auszugehen, daß die motorische Entwicklung insbesondere in der frühesten Kindheit eng mit der Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit verknüpft ist.

4. Die Bedeutung der motorischen Entwicklung als Voraussetzung zum Erlernen der Kulturtechniken Lesen und Schreiben

Kindergartenzeit:

Insbesondere in der Kindergartenzeit kommt es durch Verarbeitungsstörungen von Muskel-, Gelenks- und Gleichgewichtsreizen, oft einhergehend mit einer zu niedrigen Muskelspannung (Hypotonie) zu unzureichenden Körperkoordinationsleistungen, nicht selten gekoppelt mit auditiven und visuellen Verarbeitungsschwächen, motorischer Unruhe und Aufmerksamkeitsdefiziten. Dies kann u.a. zu folgenden Symptomen führen:

  • Geringes Selbstwertgefühl
  • Ablehnen von motorischen Kinderspielen und Kinderturnen
  • Unlust beim Basteln und Schneiden
  • Unreife Stifthaltung
  • Verzögerte Malentwicklung
  • Alltagspraktische Ungeschicklichkeiten beim Anziehen, Essen etc.

Grundschule:

Auch in den ersten Grundschulklassen zeigen sich auf Grund der beschriebenen Verarbeitungsstörungen von Sinnesreizen unter anderem folgende Symptome:

  • Grobmotorische Ungeschicklichkeit
  • Verlangsamtes Schreibtempo
  • Verkrampfte Stifthaltung (oft bedingt durch einen hypertonen Kompensationstonus der Hand bei hypotoner Körpergrundspannung)
  • Mangelnde Automatisierung beim Schreiben der einzelnen Buchstaben
  • Zu wenig mundmotorische Rückkopplung zur Unterstützung der Lautanalyse beim Schreibvorgang
  • Mangelnde Blickverfolgung
  • Verminderte auditive Merkfähigkeit
  • Unreife innere sprachliche Regulation
  • Verminderte Lautanalysefähigkeit
  • Geringer Wortschatz
  • Aufmerksamkeitsdefizite
  • Visuelle - serielle Schwächen
  • Räumlich - konstruktive Schwächen
  • Wenig Arbeitshaltung
  • Verhaltensstörungen als Sekundärproblematik

Die angeführten Symptome sind die basalen Defizite bei mehr oder weniger stark ausgeprägten Lese- Rechtschreibstörungen sowie Rechenstörungen.

5. Zusammenfassung und mögliche pädagogische und therapeutische Konsequenzen

Möglichst frühzeitig, bei Verdacht auch lange vor der Einschulung sollte eine umfassende Verhaltens- und Leistungsdiagnostik von entsprechend ausgebildetem Fachpersonal durchgeführt werden, um im Bedarfsfalle individuelle Fördermaß-nahmen einzuleiten. Der Ansprechpartner für betroffene Eltern ist erstrangig der Kinderarzt oder Hausarzt, der an die zuständigen Einrichtungen verweist.

6. Therapie

Bei diagnostizierten Schwächen in der Körperkoordination, in der Körperwahrnehmung sowie in der Feinmotorik erfolgt eine individuell auf den Entwicklungsstand des betroffenen Kindes ausgerichtete ergotherapeutische Fördermaßnahme. Eingesetzt werden Methoden der Sensorischen Integrationstherapie nach Jean Ayres, der Körperwahrnehmung nach Marianne Frostig, psychomotorische Inhalte sowie verschiedene feinmotorische Förderprogramme unterstützt über kindgerechte Werktechniken.

Zur Therapie von visuellen-, auditiven-, seriellen-, räumlichen- und zeitlichen Verarbeitungsdefiziten sowie von Legasthenie, Dyskalkulie und Aufmerksamkeit erfolgen nähere Ausführungen unter den Links Legasthenie, Dyskalkulie, ADHS.

Quellenangaben:

AYRES J.: Lernstörungen. Sensorisch-integrative Dysfunktionen. Berlin 1979

DEEGENER G. u. a.: Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen. Weinheim 1992

EGGERT D. u. KIPHARD J.: Die Bedeutung der Motorik für die Entwicklung normaler und behinderter Kinder. Hofmann 1972

WEHRLI A.: Neuropsychologische Untersuchungen bei Kindern. Winterthur 1981

WUNDERLICH A.: Vergleichende Untersuchung an hirngeschädigten und hirngesunden Kindern von Hünnekens u. a. Acta paedopsychiat. 36, 1969, 82-90

 

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