(Wachsamkeitsprogramm)
von MarySue Williams/Sherry Shellenberger
©2001 verlag modernes lernen, Dortmund und ©1994, 1996 TherapieWorks, Inc. Albuquerque, USA
als Bestandteil der sensorischen Integrationstherapie für Menschen mit ADS/HKS
(Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom/Hyperkinetisches Syndrom)
Theorie und Praxis der Selbstregulierung
Das Alert-Programm (AP) hilft den Kindern und Erwachsenen beim Verständnis der Grundlagentheorie der sensorischen Integration in Bezug auf Erregungszustände. Der Hauptaugenmerk richtet sich darauf, Kindern beim Erlernen der Überwachung, Aufrechterhaltung und Veränderung ihres Wachsamkeitszustandes entsprechend einer gegebenen Situation oder Aufgabe zu helfen.
Für wen kann das Programm angewendet werden?
Es wurde für Kinder zwischen 8-12 Jahren entwickelt. Die Weiterentwicklung ermöglicht nun einen Einsatz bereits ab einem Alter von 5 Jahren.
Wer führt das Programm durch?
Da es von Ergotherapeuten erfunden wurde und sehr stark von der sensorischen Integrationstherapie beeinflusst ist, sind Ergotherapeuten die richtigen Ansprechpartner, bzw. jeder Therapeut, der sich mit der Wirkungsweise der SI auseinandergesetzt hat, wird das Prinzip bald gut weitergeben können.
Wichtiger Bestandteil des AP ist aber die gezielte Anleitung der Eltern, Lehrer und sonstige Bezugspersonen des Patienten, die dadurch eine wichtige Rolle in der Umsetzung des Programms einnehmen können.
2.1. Sensorische Integration nach Jean Ayres:
"Die sensorische Integration ist das Ordnen der Empfindungen, um sie gebrauchen zu können.Unsere Sinne geben uns Informationen über den physikalischen Zustand unseres Körpers und über die Umwelt um uns herum. Empfindungen fließen in das Gehirn wie Ströme in ein Meer. Zahllose "Bits" sinnlicher Wahrnehmungen erreichen in jedem Augenblick unser Gehirn nicht nur von den Augen und Ohren her, sondern auch von jedem Teil unseres Körpers (z.B. Muskeln, Gelenke, Haut, Gleichgewicht).
Das Gehirn muss alle diese verschiedenen sensorischen Empfindungen ordnen. Dadurch kann sich der Mensch angemessen bewegen, lernen und verhalten. Er kann sensorische Empfindungen in einer gut organisierten, d.h. gut integrierten Weise nützen, um daraus Wahrnehmungsprozesse, Verhaltensweisen und Lernprozesse zu formen (Bausteine der kindlichen Entwicklung von Jean Ayres).
Analog dazu das Beispiel des Computers:
Schreibt man einen Brief, werden die Informationen in den Computer eingegeben (Input). Der Computer verarbeitet die Informationen und es kann eine Kopie des Briefes ausgedruckt werden (OUTPUT). Wird ein Fehler gefunden, ist möglicherweise etwas falsch geschrieben worden. Ist dies aber nicht der Fall, dann muss etwas in der internen Verarbeitung des Computers schief gelaufen sein. Bei unseren AD(H)S Kindern gehen wir genau davon aus: Die internen Verarbeitungen von Sinneseindrücken und Informationen laufen nicht in einer idealen Weise / optimiert (siehe Schaubild: Williams / Shellenberger - Wie läuft mein Motor?).
Aus: Williams/Shellenberger: Wie läuft eigentlich mein Motor?
©2001 verlag modernes lernen, Dortmund
2.2 Erregungstheorie:
Erregung kann als ein Zustand des Nervensystems angesehen werden und beschreibt wie wachsam jemand ist. Um in einer bestimmten Situation entsprechend aufmerksam zu sein, sich konzentrieren und Aufgaben ausführen zu können, muss das Nervensystem für diese Aufgabe in einem optimalen Erregungszustand sein. Für Kinder wird dabei das Wort "wachsam" statt "erregt" verwendet.
Selbstregulierung ist damit die Fähigkeit, einen für eine bestimmte Aufgabe oder Situation geeigneten Erregungszustand zu erreichen und selbsttätig aufrecht zu erhalten oder zu verändern.
Hirnorganisch spricht man von drei verschiedenen Graden bzw. Hirnarealen in denen die Funktionen der Selbstregulierung stattfinden (siehe Abb. 1.4.: Entwicklung der Selbstregulierung)
Aus: Williams/Shellenberger: Wie läuft eigentlich mein Motor? ©2001 verlag modernes lernen, Dortmund
Zusammenfassend kann man sagen (siehe nochmals Abb. 1.4: Entwicklung der Selbstregulierung)
Im Rahmen des Alert Programms versucht man über das erreichte Bewusstsein (dritter Grad/der Cortex) der verschiedenen möglichen "Wachheitszustände" (erster Grad/retikuläres und autonomes Nervensystem), diese über Eigenkontrolle besser zu steuern. Diese Steuerung erfolgt unter zu Hilfenahme der Strategien des zweiten Grades (limbisches System und Cortex). Unter den Strategien des zweiten Grades verstehen wir vorrangig die Integration sensorischer Reize.
3. Erregungszustände:
Es gibt drei verschiedene Arten von Erregungszuständen: Hoch, genau richtig, niedrig (siehe Abb. 1.5: Beispiele für Drehzahlbereiche sowie die drei Beispielfotos für Erregungszustände "Niedrig", "Genau Richtig", "Hoch").
Jeder Mensch kann sich in jedem dieser Bereiche befinden, je nach Tagesform, Situation, Tageszeit und Wohlbefinden. Es gibt jedoch Menschentypen, die sich überwiegend in einem zu hohen oder zu niederen Wachheitsbereich befinden. Diese können als Menschen mit einem ADS (Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom) bezeichnet werden.
Um den Erregungszustand für Kinder anschaulich und verständlich darzustellen sprechen wir mit dem Kind von einer "Drehzahl". Analog am Beispiel des Motors: "wie hoch dreht der Motor".
Aus: Williams/Shellenberger: Wie läuft eigentlich mein Motor? ©2001 verlag modernes lernen, Dortmund
Hier sehen Sie kindgerechte Bildbeispiele aus dem Alltag für die "Drehzahlhöhe"
4. Inhibition:
Wir sprechen von aufsteigender und absteigender Inhibition (Erregungshemmung). Das Gehirn besteht aus verschiedenen, verbundenen Arealen, die den Erregungszustand beeinflussen.
Die absteigende Inhibition wird vom Cortex gesteuert.
Die aufsteigende Inhibition wird über das Stammhirn gesteuert bzw. über sensorisch gegebene Reize.
Zur Regulation der Aufmerksamkeit werden im Rahmen der Therapie, mit Übernahme in die häusliche Situation, gezielt Sinneserfahrungen (Reize) angeboten / eingesetzt. Sinnesreize die eine sehr gute regulierende Wirkung auf die Aufmerksamkeit und motorische Unruhe zeigen sind aus unten stehender Graphik u entnehmen.
Dabei sind oben links alle Sinneserfahrungen aufgelistet, die üblicherweise die am stärksten organisierende Wirkung haben und am leichtesten zu verarbeiten sind, und rechts unten die, die am geringsten auf Wachsamkeit wirken.
Starke organisierende Wirkung <<<
Geschmack Geruch |
orale Beschaffenheit |
Taktil | vestibuläre Bewegungen |
vestibuläre Schwerkraft |
visuell | auditiv |
süß/Vanille- geschmack |
Saugen/ Blasen |
Gelenk- und Muskelaktivität/ von kalt bis lauwarm (z.B. duschen) |
Gelenk- und Muskelaktivität |
Haltung zur Aufnahme sensorischer Reize vertikal |
helle/dunkle Farben |
Vibration Geräusche laut/leise |
salzig/ Wasser |
Beissen/ Knirschen |
fester Druck mittlere Temperatur |
Oszillation (Schwanken) |
horizontal | Form (Räder) |
Rhythmus Musik Liedgesang Sprechen Reimen |
sauer/ Zitrus- geschmack/ würzig |
Kauen | Berührungsdruck mittlere Temperatur |
lineare Bewegungen (Schaukeln) |
außerhalb gerader Linien (diagonal) |
Platz (Ort) | Vokalissation /Sprachlaute |
bitter/rauchig | Lecken | leichte Berührung (kann unerwartet sein) extreme Temperatur |
rotarische Bewegungen (Drehung oder partielle Rotation) |
kopfüber/ nach hinten Raum |
Bewegung durch Raum und Zeit |
Sprache |
>>> schwache organisierende Wirkung
(nach: Patricia Oetter ©1991, MA, OTR, FAOTA)
Sensomotorische Präferenzen:
Wie auch bei den Kindern haben Erwachsene auch ihre eigenen sensomotorischen Präferenzen und Strategien, um ihren eigenen Aufmerksamkeitspegel wach zu halten. Erwachsenen fällt es leichter sich aktiv, d.h. mittels kognitiver Strategien des Cortex, wach zu halten und doch hat jeder seine eigenen Strategien: Kaffee trinken, Herumspielen mit Schmuck, leichtes Schaukeln eines Beines das übergeschlagen ist und vieles mehr.
Um festzustellen, welche Strategien man selbst hat, kann man die folgende Liste als Anhaltspunkt nehmen:
Checkliste der sensomotorischen Präferenzen (für Erwachsene) Hinweise:Diese Checkliste wurde entwickelt, damit Erwachsene erkennen können, welche Strategien ihr Nervensystem zum Erreichen eines geeigneten Wachsamkeitszustandes anwendet. Markieren Sie die unten aufgeführten Punkte, die Sie anwenden, um Ihren Wachsamkeitszustand zu erhöhen (▲) oder zu senken(▼). Möglicherweise markieren Sie bei einigen Punkten beide Richtungen (▲▼). Andere wiederum wenden Sie überhaupt nicht an. |
|
Etwas in den Mund nehmen (mundmotorischer Input): | |
|
|
Sich bewegen (vestibulärer / proprioceptiver Input): | |
|
|
Berühren (taktiler Input): | |
|
* mit bzw. an folgenden Dingen herumspielen
|
Aus: Williams / Shellenberger: Wie läuft eigentlich mein Motor? ©verlag modernes lernen, Dortmund
5. Therapie:
DasTherapiekonzept untergliedert sich in drei Stufen
1. Identifizieren der Drehzahl
2. Experimentieren mit verschiedenen Methoden zur Veränderung der Drehzahl
3. Regulierung der Drehzahl
Ein regelmäßiger Austausch mit den Eltern, insbesondere über die Erfahrungen im Elternhaus und Schule, ist eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Anwendung des AP.
Praxis für Ergotherapie Ernst Barthel, Februar 2002