von Ernst Barthel, Praxis für Ergotherapie
1. Beobachtungsmöglichkeiten der Bewegungsqualitäten bei Kindern
Systematische Beobachtungs- und Beurteilungsmöglichkeiten der motorischen Geschicklichkeit von Kindern ergeben sich wie folgt:
A | Freie Beobachtung: Die Beobachtung der kindlichen Spontanbewegung bei Spiel, Sport, Basteln, Malen und bei allen alltagspraktischen Handlungen. |
B | Gezielte Beobachtung: Vorgeben und Einfordern von altersgerechten Bewegungsleistungen wie z.B. Hampelmannsprung, Ball prellen u.v.m. |
C | Testbeobachtung: Durchführung eines Körperkoordinationstests. Die zurzeit gängigen Verfahren sind der Körperkoordinationstest KTK für 5,0 bis 13,11 jährige Kinder und der Motoriktest MOT 4-6 für 4,0 bis 6,11 jährige Kinder (diese Tests können von speziell ausgebildetem Fachpersonal durchgeführt werden). |
Hierbei ist es möglich, insbesondere folgende Parameter zu beurteilen:
Insbesondere Pädagogen genießen in der freien und gezielten Beobachtung den Vorteil gegenüber Arzt und Therapeut, da sie die Kinder wiederholt in ihren motorischen Fertigkeiten beobachten und insbesondere innerhalb der Gleichaltrigengruppe vergleichen können.
2. Die sensomotorische und hirnorganische Verarbeitung bei Bewegungsaufgaben
Beispiel A: Einbeinstand
Der Einbeinstand fordert gut abgestimmte, früh einsetzende Ausgleichsbewegungen, die auf der Integration der Afferenzen (Sinnesreiz vom Sinnesorgan zum Zentralnervensystem geleitet) aus dem vestibulären, dem taktil-kinästhetischen und dem visuellen System aufbauen. DEEGENER u.a. (1992)
J. AYRES (1979) nennt geringe Augenkontrolle, unausgereifte Gleichgewichtsreaktionen und gering integrierte primitive Haltungsreflexe als mögliche Ursachen von Störungen der Haltungsintegration.
Beispiel B:
Im Wechsel mit der Faust, der Handkante, der flachen Hand auf die Tischplatte klopfen. Die Sequenz drei Mal wiederholen.
Diese Aufgabe erfordert zuerst das Behalten der Instruktion. Weiterhin die Ausarbeitung einer Bewegungsplanung, der Bewegungssteuerung unter sprachlicher Regulation (Faust, Handkante, Hand) und die Ausbildung einer kinetischen Melodie (fließender harmonischer Bewegungsablauf).
Laute verbale Selbstinstruktion des Kindes könnte zu einer Erleichterung bei der Durchführung helfen.
Der motorische Cortex zur Bewegungssteuerung, okzipitale Gehirnabschnitte zur Verarbeitung visueller Information, die Frontallappen zur sprachlichen Regulation der Bewegung und der prämotorische Cortex zur Ausbildung der kinetischen Melodie sind bei Durchführung dieser Aufgabe beteiligt.
DEEGENER u.a. (1992)
Diese beiden Beispiele zeigen auf, welch große Anzahl an Sinnesorganen (Muskeln, Gelenke, Gleichgewicht, Haut, Augen, und Ohren) ihre spezifischen Sinnesreize aufnehmen, diese zum Gehirn weiterleiten und wie viele Gehirnregionen an der Steuerung von Bewegungsleistungen beteiligt sind.
Ursächlich wird von einer Hirnschädigung ausgegangen. Mittlerweile hochverfeinerte bildgebende Verfahren wie die Kernspintomographie können allerdings keine entsprechenden Hinweise geben.
Diskutiert werden sowohl strukturelle Schädigungen des Gehirns, als auch Stoffwechselstörungen. Für letzteres sprechen Befunde der Positronen Emissionen Tomographie (PET). Es konnte z.B. ein veränderter Glucosestoffwechsel bei hyperaktiven erwachsenen Menschen im Gegensatz zur Normalpopulation nachgewiesen werden.
3. Motorische Befunde als Ausdruck einer spezifischen Reifungsverzögerung
In der Beobachtung von motorisch auffälligen Kindern zeigen sich aber nicht selten weitere Symptome, die über reine grob- und feinmotorische Schwächen des Kindes hinausgehen.
Zu denken ist dabei vorrangig an folgende Symptome:
4. Zielgerichtete Befundung
Dazu eignen sich, wie schon dargestellt, Instrumente der freien Spiel- und Alltagsbeobachtung, gezielte Aufgabenstellungen (standardisierte Beobachtung) sowie standardisierte Testverfahren.
Die Testverfahren sind abgestimmt auf das Alter des Kindes und den zu untersuchenden Entwicklungsbereich!
Um den betroffenen Kindern eine, auf ihre Defizite hin gezielt abgestimmte Förderung zukommen zu lassen, ist eine umfassende Diagnose erforderlich. Orientiert an der Symptomatik des betroffenen Kindes sollten die folgenden Entwicklungsbereiche beurteilt werden.
Abzuklären sind, je nach Symptomatik, folgende Entwicklungsbereiche:
5. Die Bedeutung der Entwicklung als Voraussetzung zum Erlernen der Kulturtechniken Lesen und Schreiben
Kindergartenzeit:
In der Kindergartenzeit kommt es durch Verarbeitungsstörungen von Muskel-, Gelenks- und Gleichgewichtsreizen, oft einhergehend mit einer zu niedrigen Muskelspannung (Hypotonie) zu unzureichenden Körperkoordinationsleistungen. Weiterhin lassen sich bei Kindern auditive und visuelle Verarbeitungsschwächen, motorische Unruhe und Aufmerksamkeitsdefizite beobachten. Dies kann u.a. zu folgenden Symptomen führen:
Grundschule:
Auch in den ersten Grundschulklassen zeigen sich auf Grund der beschriebenen Verarbeitungsstörungen von Sinnesreizen unter anderem folgende Symptome:
Die angeführten Symptome sind die basalen Defizite bei mehr oder weniger stark ausgeprägten Lese- Rechtschreibstörungen sowie Rechenstörungen.
6. Zusammenfassung und mögliche therapeutische Konsequenzen
Möglichst frühzeitig, bei Verdacht auch lange vor der Einschulung, sollte eine umfassende Verhaltens- und Leistungsdiagnostik von entsprechend ausgebildetem Fachpersonal durchgeführt werden, um im Bedarfsfalle individuelle Fördermaß-nahmen einzuleiten. Der Ansprechpartner für betroffene Eltern ist erstrangig der Kinderarzt oder Hausarzt, der an die zuständigen Einrichtungen verweist.
7. Therapie
Bei diagnostizierten Schwächen in der Körperkoordination, in der Körperwahrnehmung sowie in der Feinmotorik erfolgt eine individuell auf den Entwicklungsstand des betroffenen Kindes ausgerichtete ergotherapeutische Fördermaßnahme. Eingesetzt werden unterschiedliche sensomotorische und neurophysiologische Förderkonzepte sowie verschiedene feinmotorische Förderprogramme unterstützt über kindgerechte Werktechniken.
Zur Therapie von visuellen-, auditiven-, seriellen-, räumlichen- und zeitlichen Verarbeitungsdefiziten sowie von Legasthenie, Dyskalkulie und Aufmerksamkeit erfolgen nähere Ausführungen unter den Links Legasthenie, Dyskalkulie, ADHS.
Quellenangaben:
DEEGENER G. u. a.: Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen. Weinheim 1992
EGGERT D. u. KIPHARD J.: Die Bedeutung der Motorik für die Entwicklung normaler und behinderter Kinder. Hofmann 1972
WUNDERLICH A.: Vergleichende Untersuchung an hirngeschädigten und hirngesunden Kindern von Hünnekens u. a. Acta paedopsychiat. 36, 1969, 82-90
AYRES J.: Lernstörungen. Sensorisch-integrative Dysfunktionen. Berlin 1979
Praxis für Ergotherapie, Ernst Barthel