Hauptmerkmal ist eine bedeutsame Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lese- und Rechtschreibfertigkeiten, die nicht durch eine zu niedrige Intelligenz oder unangemessene Beschulung erklärbar sind.
Während der Schulzeit sind begleitende Störungen im emotionalen und Verhaltensbereich häufig. Die Störungen persistieren häufig bis in die Adoleszenz. Klassifiziert in der ICD 10 – F81.0.
Definition Teilleistung
Unter Teilleistungen werden die basalen neuropsychologischen Funktionen verstanden, die wesentliche Voraussetzungen für die Entwicklung bzw. das Erlernen aller komplexen psychischen und physischen Tätigkeiten sind (GRAICHEN 1979 in Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen Seite 8).
Hier ein Beispiel für notwendige Teilleistungen beim Schreiben eines diktierten Textes:
Gehör: | Hören des Satzes |
Sprachlicher Assoziationscortex: | Sinnerfassung des Satzes |
Auditiver Kurzzeitspeicher: | Speicherung des Satzes im Kurzzeitgedächtnis |
Proprioception / Muskeltonus: | Guter Haltungshintergrund als Voraussetzung für die freie und gezielt gesteuerte Beweglichkeit von Oberkörper (Sitzhaltung), Arm und Hand beim Schreibvorgang |
Phonematische Differenzierung: | Über die Lautanalyse erkennt das Kind die Buchstabenreihenfolge im Wort während des Schreibvorganges |
Proprioception Hand: | Handsteuerung beim Schreibprozess und die sofortige kinästhetische Rückmeldung über den bereits ausgeführten Bewegungsvorgang |
Visuelle Wahrnehmung: | visuelle Kontrolle des Geschriebenen, |
Gedächtnis: | Denkprozess für Rechtschreibregeln |
Proprioception Mund: | In der Regel nicht sichtbare Innervation der Mundmotorik zur Unterstützung der Lautanalyse |
Visuelle Wahrnehmung: | Abruf von visuellen Wortbildern bei auditiv nicht zu differenzierenden Wörtern |
Gehör: | Erfassen der Satzfortführung durch die Lehrkraft |
Die Komplexität der beim Schreibprozess erforderlichen Fertigkeiten setzt gut integrierte Sinnesleistungen, Aufmerksamkeit und altersgemäße Konzentrationsfähigkeit voraus.
Alle die hier dargestellten Teilleistungen sind Voraussetzung für eine gelungene Schreib- und Leseleistung. Die in Türkis dargestellten Teilleistungen sind Förderbereiche der Ergotherapie.
2.1 Haltungshintergrund / taktil-kinästhetische und vestibuläre Integration
Der Haltungshintergrund ist die Voraussetzung für eine stabile Sitzhaltung bei feinster Anpassung von Muskulatur, Gelenken und Gleichgewichtsfunktion an die minimale Bewegungsveränderung von Rumpf, Rücken, Schulter, Arm und Hand beim Schreibprozess.
Weiterhin ist eine adäquate gehirnorganische Reifung als Grundlage für eine gute Integration von vestibulären, taktilen und proprioceptiven Reizen Voraussetzung für eine altersgemäße Konzentrations- und Aufmerksamkeitsleistung sowie Arbeitshaltung.
Entwicklungsauffälligkeiten:
Neurologische Auffälligkeiten wie frühkindliche Koordinations- und Gleichgewichtsunsicherheit
z. B. Motorische Unruhe, erhöhte Erregbarkeit, Ablenkbarkeit, Konzentrationsschwäche und mangelnde Ausdauer beim Spiel
z. B. Schwächen beim bipedalen Hüpfen, Treppe heruntersteigen, Schlußsprong, Ball fangen, selbstständiges Schaukeln
2.2 Feinmotorik / Graphomotorik
Abweichend vom Normotonus (Muskelspannung) zeigt sich nicht selten eine hypotone (geringe) Gesamtkörperspannung bei hypertonem Kompensationstonus in der Hand als Ursache für verkrampfte Stifthaltung, Handschmerzen, langsamem Arbeitstempo und unsauberer Schrift.
Weiterhin führt eine unreife Handmotorik oft zu einem mangelhaft automatisierten Bewegungsablauf beim Schreibvorgang.
Entwicklungsauffälligkeiten:
z. B. Fortbestehen des Faustschlusses, mangelnde frühkindliche Ausdauer in der Hand-Augenkontrolle, verspäteter Spitzgriff
2 - 3 Jahre: z. B. Probleme beim Aufeinanderstellen von Bauklötzen, beim Essen mit dem Löffel, Malen von senkrechten und waagrechten Strichen und geschlossenem Kreis
4 Jahre: z. B. nicht altersgemäße Leistung beim Halten des Stiftes, beim Schneiden und Basteln, Perlen fädeln, Malen von Kreuz, Viereck und einfachem Körperbildnis
5 Jahre: z. B. beim Malen zeigt das Kind Schwächen bei der Darstellung von Haus mit Fenster, Tür und Schornstein, im Selbstbildnis oder beim Dreieck.
Oft als Folge von unreifer Stifthaltung, Hypotonie, mangelnder Flexion und Extension des I. und II. Fingers während der Strichführung und defizitärer Steuerung der Hand über die Augen
6 Jahre: z. B. fehlende oder ungleichmäßige einfache Schwungübungen, mangelndes Kopieren von Mustern
2.3 Mundmotorik
Eine normotone Muskelspannung und eine altersgerechte mundmotorische Koordination sind u. a. Voraussetzung für eine gute Sprachentwicklung.
Die in der Regel nicht sichtbare mundmotorische Innervation der Mundmuskulatur beim Schreibvorgang unterstützt das Erkennen der Buchstabenreihenfolge im Wort. Kinder mit Artikulationsstörungen können ihre vorhandenen auditiven Verarbeitungsstörungen (folglich Lautanalyseschwächen) oft nur unzureichend kompensieren.
2.4 Visuelle Wahrnehmung
Bei LRS-Kindern sind keine gesicherten Zusammenhänge zwischen mangelnder Form- und Gestalterfassung und unzureichender Buchstabenverarbeitung nachzuweisen (Oehrle 1975 in Legasthenie und Hirnfunktion).
Diese Tatsache stellt eine visuelle Wahrnehmungsförderung mittels Bildmaterialien in der Legasthenikertherapie deutlich in Frage. Eine Förderung mittels Buchstabenmaterial ist impliziert.
Manche Buchstaben unterscheiden sich nur in ihrer Raumlage oder durch geringe Formabweichungen voneinander. Wortbilder differieren von sehr ausgeprägt bis kaum in ihrer visuellen Gestalt.
Aber erst in Verbindung mit der Sprache bekommen Buchstaben und Worte eine Klangbedeutung und durch entsprechende Kombinationen auch eine Inhaltsbedeutung (Visuell - auditive Integration / Phonem - Graphem Zuordnung).
Entwicklungsauffälligkeiten:
Frühkindlich zeigen sich z.B. Defizite in der Zuordnung von Kugel und Würfel, den Grundfarben oder großer und kleiner Kreis.
3 Jahre: z.B. ist das Zuordnen dreier verschieden großer Scheiben, von Dreieck, Viereck, Kreis verspätet. Das Nachbauen eines Quadrates aus vier Würfeln gelingt verspätet.
4 Jahre: Puzzles, Muster mit Legeplättchen in richtiger Raumlage zu legen, Männchen aus 6 Teilen legenoder das Sortieren von Stäbchen nach der Länge gelingt nicht altersgerecht.
Diagnose:
Test: | Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik MFED (Perceptionsaufgaben) Frostig Entwicklungstest der visuellen Wahrnehmung FEW Developmental Test of Visual Perception DTVP - 2, Marianne Frostig Center |
Screening: | Southern California Sensory Integration Tests SCSIT (visuelle Aufgaben) TÜKI: Figur-Grund-Wahrnehmung nach POPPELREUTER Raumlage nach WYKE und ASSO Räumliches Denken - Mosaiktest, Fortsetzung der Zeichnung einer Raute |
2.5. Rezeptive Sprache
Für den Schreibprozess ist eine gesicherte phonematische Lautdifferenzierung, ein ausreichender Wortschatz, sowie das gute Verständnis für Sätze und grammatikalische Strukturen unerläßlich.
Störungen in der rezeptiven Sprachverarbeitung führen in Kombination mit weiteren Teilleistungsschwächen gehäuft zu sogenannten Wahrnehmungsfehlern beim Schreibvorgang (Wortdurchgliederungsfehler, Worttrennschärfefehler und mit Einschränkung Dopplungsfehler).
Altersgerechte Entwicklungsparameter:
Das Sprachverständnis geht der Sprachreproduktion voraus (GRIMM 1987 in Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen Seite 94).
Frühkindlich (10-12 Monat) ist zu beobachten: Suchen von bekannten Personen auf Befragen, erstes Reagieren auf sprachliche Verbote oder das Befolgen erster einfacher Aufforderungen (Hole mir ....).
1 - 3 Jahre: z.B. Zeigt auf Körperteile, Deutet auf benannte Gegenstände, Befolgt einfache Arbeitsaufträge (Kiste auf, hole großes Pferd), Versteht einfache Präpositionen (auf, unter, neben, hinter), Unterscheidet groß, klein, lang, leicht, schwer, kalt, warm.
3 Jahre: Die interne Wortrepräsentation entspricht in der Grundlage weitgehend der des Erwachsenen.
4 Jahre: z.B. werden altersgerechte klangähnliche Worte werden sicher unterschieden
3 - 10 Jahre: Grammatikalische Vervollkommnung und Erweiterung des Wortschatzes.
Akustische Spuren sind gefestigt. Die Fähigkeit zur schnellen syntaktischen (Satzgefüge) und semantischen (Inhalt) Satzanalyse ist ausreichend ausgebildet.
Das Nachsprechen von altersgerechten Sätzen und Zahlenfolgen ist möglich.
Der auditive Kurzzeitspeicher weist genügend Kapazität auf.
Diagnose:
Test: | Münchner Funktionelle Entwicklungsdiagnostik MFED - Sprachverständnis (1.0 - 3.0 Jahre) Lautunterscheidungstest für Vorschulkinder von FRIED 4 (Normen für 4.0 - 7.0 Jahre) Bremer Lautdiskriminationstest von NIEMEYER (Normen für zweites Schuljahr) Psycholinguistischer Entwicklungstest von ANGERMAIER Untertests: Sätze ergänzen, Wortverständnis und Zahlenfolgegedächtnis (Normen für 3.0 - 9.0 Jahre) Mottiertest (Normen ab 2. Klasse) Achtung: Beinhaltet auch Expressive Sprache |
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Screening: |
BREUER / |
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2.6 Expressive Sprache
Eine korrekte Artikulation setzt die Intaktheit der folgenden Funktionsbereiche voraus:
- kinästhetisches Feedback der jeweiligen Stellung der Artikulationsorgane
Es kommt zu Artikulationsstörungen z.B. mit Vertauschungen von in ihrer Artikulationsstellung ähnlichen Lauten (z. B. m/b, d/n)
- akustisch phonematisches Gehör
Hier können Verwechslungen von klanglich ähnlichen Lauten zu Aussprachefehlern führen. z. B. im Inlaut (Biene/Bühne) oder im Auslaut (Hand/Hanf/Hans)
- Flexibilität beim Übergang von einer Artikulationsstellung in die nächste
Dazu muß der afferente Impuls der vorhergehenden Laute gehemmt werden.
- akustisch – verbales Gedächtnis, das beim Wiederholen längerer Lautfolgen wichtig wird
(aus: Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen)
Wichtige Entwicklungsparameter:
Frühkindliche Gurr-Laute, Lallen, nachahmendes Lallen bereiten die spätere artikulatorische Koordination vor. Vokallaute („a“ oder „ä“), Kehllaute (wie „e“ oder „ek“) oder Reibelaute („m“, „w“, „b“) werden gebildet und ausdauernd lustvoll ausprobiert. Es erfolgt eine erste Bedeutungsverleihung durch die Sprachmelodie.
1 – 2 Jahre: Einwortsätze, später Zwei- und Dreiwortsätze, die nur im Handlungszusammenhang zu verstehen sind und ohne Artikel und Hilfswörter auskommen.
2 – 3 Jahre: Spricht von sich in der Ich-Form, Gebraucht Zahlwort “zwei“ im Unterschied zu „viele“, spricht Vier- bis Sechswortsätze, Gebraucht Frageform „warum“, kann Plural bilden.
4 Jahre und älter: Die Grundlagen der Sprachbildung sind abgeschlossen.
Expressive Sprachstörungen zeigen sich u.a. durch Artikulationsstörungen, der Verwendung unpassender Begriffe, einen geringen Wortschatz und durch grammatikalische Fehler.
2.7 Synchrone auditive, visuelle und proprioceptive Reizverarbeitung
Die synchrone Integration von
Symbolfolgen | Erkennen der Form, der Raumlage und Reihenfolge von Buchstaben (Graphemen) |
Lautfolgen | (Heraushören der Buchstabenreihenfolge innerhalb eines Wortes mittels Unterstützung durch die Mundmotorik - siehe dort (Phonemen) |
Bewegungsfolge | automatisierte Bewegungssteuerung der Schreibhand über Muskeln und Gelenke |
ist bei Kindern mit LRS oft nicht ausreichend möglich.
Der gelungene Schreibvorgang setzt bei Kindern die gezielte Lautanalyse der Buchstabenfolge im Wort, die gleichzeitige (in der Regel mit dem Auge nicht sichtbare) Innervation der Mundmuskulatur zur Unterstützung der Lautanalyse und den automatisierten handmotorischen Bewegungsablauf voraus.
Dies wiederum kann nur zu einem guten Schreibergebnis führen, wenn über eine gute Symbolerfassung (visueller Speicher) die bildliche Vorstellung der Buchstaben beim Schreibenden gesichert vorhanden ist.
Zusätzlich darf der Wortlaut des Satzes (Merkfähigkeit) nicht vergessen werden und das Kind muß gleichzeitig an die Anwendung der Rechtschreibregeln denken (H. KASSEL in Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen 1992).
2.8 Merkfähigkeit
Phänomene des Einprägens und Behaltens gehören zu den traditionsreichen Forschungsgebieten der Psychologie. Eine allgemein anerkannte Theorie aus den verschiedenen Forschungsrichtungen fehlt. Aus klinischer Sicht sind Gedächtnisstörungen bei weitem nicht ausreichend klassifizierbar.
a) Prozeßebenen des Gedächtnisses
Der Weg des Reizes von der Wahrnehmung bis zur Abspeicherung im Langzeitgedächtnis durchläuft folgende Phasen:
Sensorischer Speicher
Kurzzeit- und Arbeitsspeicher
Zwischenspeicher
Langzeitspeicher
b) Störungen der Gedächtnisleistung
Störungen können durch verschiedene Prozesse beeinflußt werden:
Zum einen spielen Störungen im eigentlichen Verarbeitungs- und Speicherprozess eine wichtige Rolle, aber auch emotionale und motivationale Aktivierungsprozesse sind von wichtiger Bedeutung.
ESSER und FOCKEN (1981) beschreiben Störungen des Kurzzeitgedächtnisses in Verbindung mit Antriebs- und Vigilanzveränderungen (Durchschnittliche Wachheit des Bewußtseins) als Folgen von MCD (Minimale Cerebrale Dysfunktion).
Durch emotionale Beeinflussung wie z.B. Ängstlichkeit kann je nach Aufgabenschwierigkeit die Gedächtnisleistung gemindert werden (Deegener und Andere 1992).
aus: Neuropsychologische Diagnostik bei Kindern und Jugendlichen Seite 118
2.9 Motivation
In der therapeutischen Kontaktaufnahme mit dem Kind ist dies sicherlich der wichtigste Punkt.
Die Kinder haben nicht selten sehr viele frustrierende Erlebnisse hinter sich. Angefangen von erfolglosem Üben, über Selbstzweifel "ich bin dumm" bis zu mangelndem Verständnis für das Schulversagen mit entsprechender Verurteilung durch Eltern und Lehrer.
In der Motivation zur Leistung zeigt sich oft das grösste Problem dieser Kinder. Sowohl in der Schule, zu Hause und in der Therapie sind sie auf Grund der bisherigen und ständig wiederkehrenden Misserfolge nicht mehr zu motivieren.
Dies führt nicht selten zu katastrophalen Rechtschreibleistungen bei vorhandener normaler Intelligenz. In frühen Lebensjahren und den ersten zwei Schuljahren versäumtes kann oft nicht mehr aufgeholt werden.
2.10 Intelligenz
Eine annähernd normale Intelligenz gilt als Voraussetzung für eine gute Lese- Rechtschreibleistung. Die Ergebnisse der Teilleistungsüberprüfung korrelieren selbstverständlich mit der Intelligenz. Eine Überprüfung der Intelligenz kann von Ergotherapeuten aus verschiedenen Gründen nicht vorgenommen werden.
2.11 Regelkenntnis
Die meisten Kinder mit Legasthenie kennen die Rechtschreibregeln.
Zum Beispiel:
Großschreibung: | Welche Worte werden groß geschrieben? Fragestellung nach Wortarten und Beachtung des Satzanfangs. |
Scht / schp - Regel: | Scht/schp wird zwar gesprochen, aber nie geschrieben (Spiel, Stau, springen). |
Wortableitungen aus der Grundform des Wortes: | Zum Beispiel: Wäsche wird mit "ä" geschrieben, da die Grundform Waschen mit "a" geschrieben wird. Kommt mit "mm", da von kommen. |
V/F - Schreibweise: | Ob ein Wort mit "V" oder "F" geschrieben wird, ist nicht hörbar, sondern muß für jedes Wort als Wortbild (visuelle Leistung) gelernt werden. |
Das stimmlose "h" oder das lange "ie": | z. B. in "Sahne", "Rahmen" oder Dehnungen wie "ie" z.B. in Dieb, Sieben lassen sich normalerweise nicht Heraushören und müssen somit ebenfalls als visuelle Leistung erlernt werden. |
Die Kinder sind aber oft nicht in der Lage, diese Regeln im schnellen Ablauf des Schreibvorgangs bei Nachschrift und Diktat zu beachten.
Durch die vielen anderen Anforderungen wie stabiler Haltungshintergrund, Bewegungsautomatisierung der Hand, Merkfähigkeit für den Satz, Symbolverständnis, Lautanalyse u. a. reicht die Aufmerksamkeit für die Rechtschreibregeln und deren Beachtung nicht mehr aus, und die Fehlerzahl steigt.
Zeigt sich in der Diagnose beim Kind, daß die schlechte Rechtschreibleistung überwiegend durch Regelfehler verursacht ist und auch sonst keine weiteren basalen Defizite bestehen, liegt keine Indikation für eine ergotherapeutische Behandlungsmaßnahme vor. Eine psychologische oder pädagogische Fördermaßnahme wäre möglicherweise einzuleiten.
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Die Beurteilung des Kindes kann nur über eine Verhaltens- und Leistungsbeobachtung erfolgen.
Die visuelle Reizverarbeitung
Im Kindergartenalter sind deutliche Auffälligkeiten in der visuellen Reizverarbeitung, oft in Verbindung mit Körperwahrnehmungsstörungen ernsthafte Hinweise auf eine Entwicklungsverzögerung.
Einzelsymptome sollten meines Erachtens allerdings nicht überbewertet werden.
Im Schulalter sollten schwächere Ergebnisse in der Form- Gestalterfassung hinsichtlich einer Aussage über Legasthenie mit Vorsicht beurteilt werden. OEHRLE (1975) fand in einer Literaturübersicht keine Benachteiligung legasthener Kinder gegenüber der Normalpopulation.
Die Verarbeitung von Graphemen scheint hier die bedeutungsvollere Komponente zu sein.
Rezeptive Sprache – Expressive Sprache
Schwächen in der phonematischen Differenzierung, im Wortschatz, im guten Verständnis für
Sätze und grammatikalische Strukturen, in der auditiven Merkfähigkeit und in der Artikulation ergeben in Kombination mit oben angeführten Teilleistungssymptomen einen erheblichen Risikofaktor für eine Legasthenie.
Auditive Verarbeitungsstörungen werden in der 1. Klasse oft nicht erkannt. Die betroffenen Kinder kompensieren ihre Schwäche noch visuell (abschreiben einzelner Buchstaben). Das Arbeitstempo ist noch relativ gering und die Satzlänge kurz. Somit ist das Schreiben nach innerem Gehör mit der dabei notwendigen Lokalisation des Buchstabenortes und der Buchstabenfolge noch nicht erforderlich. Folglich kommt es nicht selten erst in 2. Schuljahr zu Leistungsproblemen.
Zusammenfassend kann gesagt werden
Je multifaktorieller die Symptome eines Kindes sind, desto deutlicher besteht die Gefahr einer Legasthenie.
In der Diagnose weisen Legastheniker im fortgeschrittenen Schulalter nicht selten in den einzelnen Teilleistungen keine eindeutigen Defizite mehr auf.
Erst wenn sie eine Summe von Teilleistungen gleichzeitig bewältigen müssen (z.B. Diktat schreiben) kommt es zu Störungsbildern.
Die Schlußfolgerung liegt nahe, daß entsprechende Schwächen bereits im frühen Kindesalter erkannt werden müssen, um einen frühzeitigen Reifungsprozess sinnvoll unterstützen zu können.
Soziokulturelle Strukturen (Elternhaus) und insbesondere emotionale Faktoren (Kind – Lehrkraft / Kind – Eltern) sind in der Prognose eine oft nicht zu bestimmende Größe.
Es bedarf in jedem Einzelfall einer sorgfältigen Abwägung unter Beachtung von Teilleistungssymptomen, emotionaler Befindlichkeit des Kindes und sozialem Status, in wie weit Fördermaßnahmen einzuleiten sind.
Unterbleiben die auf die individuellen Schwächen des betroffenen Kindes abgestimmten Fördermaßnahmen in den ersten beiden Grundschulklassen, so lässt sich der Leistungs-rückstand durch das betroffene Kind nur noch in seltenen Fällen wieder aufholen. Dies ist bedingt durch das stark gestiegene Leistungsniveau der anderen Mitschüler, den eigenen geringeren Leistungszuwachs und vor allen Dingen durch die dann bereits ausgeprägte Demotivation und die geringe Arbeitshaltung. Schlechte Bildungschancen sind somit nicht selten vorgegeben.
Ein kombinierter sensomotorischer - neuropsychologischer Behandlungsansatz orientiert sich an den Funktionsprinzipien des Gehirns und seinen Störungen. Dies bedeutet, dass unter Berücksichtigung der individuellen Schwierigkeiten des jeweiligen Legasthenikers bei der Reizverarbeitung ein gezielt darauf ausgerichteter Förderplan durchgeführt wird.
Die Ergotherapie fördert die basalen Grundlagen zum Erlernen der Kulturtechniken Schreiben und Lesen. Dies kann durch im Folgenden aufgeführte Maßnahmen geschehen:
Keine vorrangige Arbeit an Regelkenntnis durch Ergotherapeuten. Dies ist ein pädagogischer Auftrag.
Sehr kritische Differentialdiagnostik bei der Fragestellung, ob Kinder aus höheren Schulklassen (Vorsichtig ab 5. Klasse angegeben) einer ergotherapeutischen Maßnahme zugeführt werden sollen.
Bei diesen älteren Kindern steht immer mehr die Wissensvermittlung und weniger die Therapie von basalen Defiziten im Vordergrund.
Weiterhin sind die vorhandenen Verhaltensstörungen in diesem Alter oft deutlich manifestiert.
Kinder mit einer sehr hohen emotionalen Betroffenheit, die eine psychotherapeutische Maßnahme erforderlich macht, müssen von Psychologen behandelt werden.
Die zunehmende Differenz zwischen Entwicklungszuwachs des Kindes und schulischer Leistungsanforderung und der daraus folgenden Demotivation des Kindes kann oft nicht mehr aufgefangen werden. Daher nochmals: Eine möglichst in Vorschule oder den ersten beiden Grundschulklassen einsetzende Förderung ist zwingend erforderlich.
LEGASTHENIE UND HIRNFUNKTION - Neuropsychologische Befunde zur visuellen Informationsverarbeitung, Andreas Warnke, 1992, Verlag Hans Huber
NEUROPSYCHOLOGISCHE DIAGNOSTIK bei Kindern und Jugendlichen, Handbuch zur TÜKI, Deegener, Dietel, Kassel u.a., 1992, BELTZ Psychologie Verlags Union
LERNSCHWIERIGKEITEN AM SCHULANFANG Schuleingangsdiagnostik zur Frühererkennung, Breuer / Weuffen, 1993, BELTZ praxis